Wo geht Untreue los? Als Sexworker*in stelle ich mir diese Frage häufig. Nicht, um Menschen zu verurteilen, sondern aus Interesse am Konzept, mit dem ich beruflich vermeintlich viele Berührungspunkte habe.
Denn ja, ein Großteil meiner männlich gelesenen Kunden ist in Beziehungen. Einige erwähnen, dass ihre Partnerin von ihren Treffen mit Escorts weiß. Andere sagen, die Partnerin ist einverstanden, möchte aber keine Details. Die meisten verheimlichen es.
Hier mal ein sehr subjektives Diagramm, das zu 100% auf meiner subjektiven Erfahrung beruht:
Bildbeschreibung: Pie Chart zum Beziehungsstatus meiner männlich gelesenen Kunden
- 30% Single
- 50% in Beziehung, verheimlichen mich
- 15% in Beziehung, Partnerin will keine Details
- 5% in Beziehung, kommunizieren offen
Die 5% und die 15% geben mir Hoffnung für die Menschheit. Denn ich bin der Meinung, wenn wir alle etwas offener kommunizieren und mit mehr Empathie und Offenheit an Themen wie Sexualität und Intimität ran gingen, wäre uns allen geholfen.
Das bezieht sich auch auf Beziehungen, pun intended.
Die 50% lassen mich regelmäßig über Treue grübeln. Was ist dieses scheinbar so dynamische Konzept und wo sind die Grenzen?
Treue, ein dehnbarer Begriff
Treue ist eine Tugend, verwandt mit Loyalität und im Idealfall tief in gegenseitigem Vertrauen verankert. Zumindest sagen das einschlägige Wörterbücher im Internet.
Wie definierst Du Treue? Sag es mir gerne in den Kommentaren.
Bevor ich in der Sexarbeit tätig war, hielt ich Treue für ein entweder/oder. Du bist treu oder du bist es nicht.
Wenn ich mit meiner Partnerin spreche und wir uns einigen, dass wir eine offene Beziehung führen, dann bin ich ihr treu, auch wenn ich Sex mit einer Escort habe.
Haben wir uns aber auf Monogamie geeinigt, ist Sex mit Personen wie mir ein Vertrauensbruch und Untreue.
Seit ich aber mit solchen Menschen regelmäßig zu tun habe, verschwimmen die Grenzen und Definitionen für mich. Denn alle Menschen haben Bedürfnisse. Wo ich schon als Teenager wusste, dass ich nicht von einer Person erwarten will, alle meine Bedürfnisse zu erfüllen und deshalb schon früh von offenen und polyamoren Beziehungen träumte, ist dieses Modell vielen verwert.
Und während die meisten der 50% an Gästen, die mich verheimlichen, auch zugeben, dass sie ihre Partner*innen betrügen, gibt es ein paar, die hier differenzierter argumentieren.
So wie der Herr, der diesen Blog inspirierte. Seine Anfrage kam recht spontan, für den nächsten Tag im Hotel. Ich konnte es mir einrichten, er schickte mir problemlos die Anzahlung. Ein schweizer Gentleman im Anzug, Mitte 50, charmant und erfahren im Umgang mit Escorts.
Nach einer sehr heißen Runde im Hotelbett fing der Smalltalk an, der bei mir irgendwie immer in die Tiefe geht. Wir lamentieren den Unsinn des nordischen Modells und erfreuen uns an der noch legalen Sexarbeit in Deutschland. Denn er sei sehr froh, dass es Personen wie mich gebe.
“Ich will ja meine Frau nicht betrügen. Ich will keine Affäre anfangen. Aber ich will auch mal entspannen.”
– Gast über seinen Besuch bei mir
Mich ließ das innehalten. Er will seine Frau nicht betrügen, aber hat Sex mit einer Escort?
Überraschend schlüssig für mich.
Warum? Let me explain.
Treue und Gefühle
Alle Menschen haben Bedürfnisse, und diese sind nunmal verschiedener Natur.
Emotionaler, physischer, sexueller.
Eine Person, mit der ich seit 40 Jahren zusammen bin, mag meine emotionalen Bedürfnisse decken und mein Einkommen oder meine Rente die Physischen. Doch was, wenn der sexuelle Part “eingeschlafen” ist?
Es kann eine Reihe von Gründen geben, warum Paare nicht mehr intim sind. Ein*e Partner*in hat kein Verlangen mehr, oder Krankheit raubt die Libido, oder der Alltag ist zu ablenkend.
Let’s face it: Ein Sexualleben aufrecht zu erhalten ist Arbeit. Vor allem, wenn Kinder im Spiel sind. (Sehe ich an meiner Family.)
Eine Option ist nun, sich die sinnlichen Momente anderweitig zu holen, zum Beispiel bei einer Escort wie mir.
Für die meisten meiner Gäste, die in Beziehung sind, ist das der ausschlaggebende Grund, warum sie mich aufsuchen. Entweder es gibt keine Intimität mehr zuhause, oder ihre zweite Hälfte kommt mit ihrem Fetisch nicht klar. Doch wir bleiben an der Oberfläche.
Ja, ich werde mit der Person – meist dem Mann – intim, aber es sind keine Emotionen im Spiel. Auch wenn es sich in der Sinnlichkeit anders anfühlt, ich bin für mein Gegenüber Mittel zum Zweck.
Ich bin keine Affäre, keine Person, mit der sich etwas romantisches entwickelt, sondern Dienstleister*in – auch, wenn meine Aufgabe es zum Teil ist, diese Illusion zu präsentieren.
Deshalb ist es für viele auch in Ordnung, eine Escort aufzusuchen, denn sie betrügen die Emotionen ihrer Partnerin nicht, zumindest meiner Einschätzung nach. Es ist “nur Sex”.
Eine Affäre, wie mein Gast im Hotelbett als Alternative heran zog, hätte eine große Dosis an Emotionen und wäre somit eher ein Treuebruch als seine Liaison mit mir.
Deshalb ist es für ihn auch moralisch vertretbar, mich zu buchen. Seine Sekretärin zu verführen, die er ansprechend findet und mit der ihn einiges verbindet, um ein arg klischeehaftes Beispiel zu nennen, wäre indes Betrug und Untreue.
Wie ich damit umgehe
Als Escort bin ich Dienstleister*in. Menschen buchen meine Services und wie ein Friseur*innen oder ein Menschen im Handwerk ist es mir an sich egal, wer diese Person genau ist.
Da ich intime Wünsche erfülle, brauche ich natürlich etwas mehr Informationen und Nähe zur Person. Doch da ich Sex und Liebe schon seit Kindesbeinen an trennen kann (lange Geschichte), hatte ich nie ein Problem damit, dass Gäste zu mir kommen, die eventuell ihren Beziehungsmenschen betrügen.
Inzwischen kann ich das auch nicht mehr moralisch verurteilen.
Der Teil von mir, der in einem konservativ-katholisch bayerischen Dorf aufgewachsen ist, schreit auf: “Das ist Untreue! Das ist böse!”
Doch der Teil von mir, der mit diesen Menschen Sex hat, der ihr Leiden mitbekommt und ihre Liebe für ihre Partner*innen – dieser Teil weiß, dass mein Service einen positiven Effekt auf diese Menschen hat.
Der Familienvater, der seit drei Jahren keinen Sex mehr hatte und zu mir kommt, ist nach seinem Besuch viel ausgeglicherner. So kann er ein besserer Vater und Mann sein.
Der Geschäftsmann, der mich in sein Hotelzimmer bucht um abzuschalten, kann mit mehr Fürsorge zurück nach Hause gehen.
Ja, es gibt auch Arschlöcher. Nicht jeder Mann in Beziehung, der mich bucht, bringt so viel Empathie mit sich. Einige betrügen ihre Partnerin tatsächlich, “böswillig”.
Doch der Großteil der Menschen, die mir intim begegnen, tun dies, um eben nicht untreu zu werden. Denn ein Treffen mit einer Escort wie mir schließt Treue nicht aus.
Dazu werde ich in Zukunft sicher mehr schreiben, doch für heute belasse ich es dabei.
Das ist ein sehr emotionales Thema und ich bin sicher, dass viele Menschen es anders sehen werden. Teilt Eure Perspektive gerne in den Kommentaren!
Liebe Jay, erstmal danke fürs Aufschreiben und Teilen all dieser Erfahrungen und Gedanken. Die Haltung, dass das Fremdgehen erst lange Treue ermöglicht hat, ist mir auch begegnet, und kann ich auf den ersten Gedanken auch nachvollziehen. Als Partnerin selbst, merke ich, ist für mich Treue dann wieder etwas anderes – nämlich Ehrlichkeit. Das wäre im Falle eines Falles zwar auch eine Art von -selbstwertbedingt großem – Schmerz, aber eine wahrhaftige, lebendige Angelegenheit, die keinen Rückzug aus dem „in-Beziehung-Sein“ bedeutet. Es würde es mir aber auf die besch* Art wehtun, zufällig so etwas zu entdecken. Da wäre ich dann auch am liebsten Partnerin von jemandem aus der Gruppe der 5% oder 15%…
Danke dir Johanna! Seit diesem Erlebnis habe ich für mich auch gemerkt, dass Treue und Ehrlichkeit stark verbunden sind. Ich würde mir echt wünschen, dass wir mehr in die Kommunikation gingen in unserer Gesellschaft. Es würde den Schmerz nicht lindern, aber es wäre zumindest auf Augenhöhe.